Landtagswahlen als Feste der Demokratie

Karl-Rudolf Korte

Universität Duisberg-Essen

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte is Professor of Political Science at the Universität Duisberg-Essen, where he focuses on the political system of the Federal Republic of Germany. He is also the Director of the NRW School of Governance.

Englische Version

Flüchtlinge haben die Landtagswahlen vom Wochenende entschieden. Die Flüchtlingspolitik markiert 2016 die Machtfrage im Parteienwettbewerb. Alle drei Amtsinhaber wurden in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt als Ministerpräsidenten bestätigt, weil sie souveräne Zukunftskompetenz angesichts epochaler Herausforderungen – mehr oder weniger – ausgestrahlt haben. Das ist extrem ungewöhnlich in Zeiten des Ereignisgewitters. In vielen anderen europäischen Ländern wurden die Amtsinhaber durch die internationalen Turbulenzen hinweggefegt.  Extreme Populisten zogen in die Parlamente ein. Anders in Deutschland: sehr persönliche Bestätigung der Amtsinhaber, Abwahl der jeweiligen Regierungen, hohe Zustimmung für die Parteien der etablierten politischen Mitte und Einzug einer Protestpartei auch in größere westliche Landtage.

Kaum ein Thema ist so lebensnah im Alltag der Bürger verankert, wie der Umgang mit den neuen Fremden, sei es als Flüchtlinge, als Asylanten oder als Menschen in Not. Das Großthema ist die Übersetzung des sperrigen Begriffs der Globalisierung in den familiären Alltag. Humanitäres Engagement mischt sich mit Ängsten, Konflikten und ganz neuen Verteilungskämpfen, der sich keine Familie  entziehen kann. Flüchtlingspolitik ist das Leitthema beim Frühstück, am Arbeitsplatz, bei den Freizeit-Aktivitäten, den vielen Gesprächen mit Freunden und Nachbarn. Und es ist das Thema der Medien. Wahlentscheidender war kein anderes Politikfeld nach dem Globalisierungsschub des letzten Sommers.

Für Mainz, Stuttgart und Magdeburg war es bereits die zweite Wahl in Folge, die von einem Groß-Thema überlagert wurde. 2011 bestimmte die Atomdebatte den Wahlausgang. Zwei Wochen vor dem Wahltermin ereignete sich die nukleare Katastrophe von Fukushima. Der externe Schock machte die Wahlentscheidung zu einem Votum über Umwelt- und Energiepolitik.

Der externe Schock war für die Wähler am letzten Wochenende die Agenda der Flüchtlingspolitik. Die Mobilisierungschancen der  Wähler waren deshalb  hoch. Die deutlich angestiegene Wahlbeteiligung zeigt die Chancen der Demokratie. Der Umgang mit den Asylsuchenden, die Steuerung der Verteilung der Hilfsbedürftigen, die Sorgen vor Überforderung der Kommunen haben enormes Potential zur Polarisierung. Wenn sich das Gefühl durchsetzt, am Wahltag etwas Großes mitzuentscheiden, dann steigt eindeutig die Wahlbeteiligung.  Nicht nur die Wahlbeteiligung war atemberaubend hoch, sondern auch das Votum exzeptionell neu. Welche Erklärungen bieten sich an?

Paradoxes Wahlverhalten

In einer sogenannten Kundendemokratie finden sich nur noch wenige milieu- bindungsorientierte Wähler. Flüchtige Wähler entscheiden nutzen- und tagesorientiert. Innere Widersprüche, sogenannte kognitive Dissonanzen, die nicht ausgeräumt werden,  spielen dabei eine Rolle. Denn verschiedene Konsummuster verbinden sich in einer Person als Kunde: Einkauf in Billigläden und wenige Minuten später in exklusiven Galerien. Das lässt sich auf die Wahl übertragen. Widerspruchsfrei sammelten Kretschmann für die Grünen und Dreyer für die SPD zahlreiche Unterstützer des Merkel-Kurses für eine europäische Flüchtlingspolitik. Wer die CDU-Merkel unterstützen wollte, kreuzte SPD oder Grüne an. Die Unions-Kandidaten hatten den Eindruck erweckt, sich vom strikten Kurs der Kanzlerin abzusetzen. Mit dem kompromisslosen Eintreten für den europäischen Ansatz der Flüchtlingspolitik der Großen Koalition konnte man am Sonntag Wahlen gewinnen.

Dialektische Zugänge

Selten standen Landtagswahlen so im Zeichen eines globalen Themas. Neben der Flüchtlingsagenda prägte die Ausstrahlung der Großen Koalition das Wahlergebnis. Große Koalitionen führen systematisch zur Verunsicherung der eigenen Anhänger. Sie machen die Großen klein und die Kleinen groß, sie führen zum Ausfransen an den politischen Rändern. Das Wahlergebnis muss aber dialektisch interpretiert werden, denn nicht nur globale und bundesdeutsche Rahmenbedingungen prägten das Ergebnis, sondern gleichermaßen wuchtig der extrem landes- und personentypische Kontext. Die SPD gewann in Mainz prozentual hinzu und sah sich in Stuttgart und Magdeburg mit einem  Total-Desaster konfrontiert. Die Grünen retteten sich knapp in zwei Landtage und wurden in Stuttgart historisch erstmalig stärkste Partei. Sehr landesspezifisch sind die Einbußen der Linken in Sachsen-Anhalt, die viele Wähler an die AfD verloren. Die Beispiele kann man fortsetzen. Die Wahl ist nur mit einem dialektischen Ansatz analysierbar: große und sehr kleine Trends, Homogenisierung und Differenzierung, die zeitgleich und nebeneinander wirkten.

Dialektisch sollte auch interpretiert werden, dass einerseits Personenwahl dominierte: Krisenlotsen und Orientierungsautoritäten, die kompromisslos Haltung vorlebten. Andererseits wurde die AfD als Protestpartei gewählt, ohne charismatische Spitzenkandidaten in den drei Ländern und für die Wähler weitgehend ohne Kenntnis der Kandidaten, die zur Wahl standen. Der Protest hatte kein Gesicht. Das ist  überhaupt nicht ungewöhnlich bei einer Partei im Werden, gleichwohl dialektisch zum Großtrend einer Wahl, die durch Persönlichkeitswerte von Dreyer, Kretschmann und auch Haseloff bestimmt waren.

Momentaufnahmen, kein Serienstart

Wählerische Wähler neigen zu spontanen Entscheidungen. Wenn immer mehr Bürger spät und volatil entscheiden, sind stimmungsflüchtige Wähler unterwegs. Wählermärkte sind für die Momentaufnahmen kalkulierbar, aber nicht längerfristig. Der massenhafte Protest der Wähler – auch als ehemals konjunkturelle Nichtwähler –  der sich in den Stimmen für die AfD niederschlug, bündelte Angst und Enttäuschung bei den zentralen Themen von  Sicherheit und Ordnung. Doch flüchtige Wähler erreicht man punktuell, aber nicht verlässlich. Über die Hälfte der Wähler waren Wechselwähler. Jede Partei kann davon profitieren. Nichts ist schwerer, als Protestwähler langfristig an sich zu binden.  Wenn 2017 andere globale oder bundesdeutsche Themen dominant sind, profitieren vermutlich ganz andere Parteien davon als diejenigen am letzten Wochenende. Wahltage werden zu Tagesplebisziten. Eine Serie hat am Sonntag nicht begonnen.

Koalitionen der Angst

Profiteure des Flüchtlingsthemas waren die Parteien am rechten und rechtspopulistischen Rand, vor allem die AfD:   Unmutsaufsauger und Frust-Ventil zugleich. Diese Parteien sammelten die Angst-Mitte der Gesellschaft und die Denkzettel-Wähler der Großen Koalition. Solche  vom Ressentiment getriebenen Mitte-Wähler gab es schon immer. Sie füllen die Angebotslücke im etablierten Parteienspektrum, um ihren  Unmut über „zu viel Globalisierung“, „zu viel  Europa“, „zu viel Modernisierung“ und allgemein gegen „die da oben“ in eine Stimme für die AfD  umzuwandeln. Als Empörungsbewegung sammelte die AfD aber nicht nur Nicht-Wähler, sondern auch Stimmen aus allen Parteilagern – im Osten eher von der Linken, im Westen eher von der Union. Die AfD ist eine Dagegen-Partei, die antielitäre Wut antreibt. Ob sie eine Partei wird, die auch in den Parlamenten gestalten kann, muss sich zeigen. Die ersten Erfahrungen in den östlichen Bundesländern zeigen, wie schwer das parlamentarische Politikmanagement ist, wenn keine Vorerfahrungen bestehen. Sollte die AfD es schaffen, chamäleonhaft wie seit ihrer Gründung vor drei Jahren, neue Themen zu besetzen, mit denen globalisierungsverängstigte Mitte-Bürger anzuziehen sind, die sich nicht von den etablierten Parteien angesprochen fühlen, wird sie längerfristig im Parteienwettbewerb dabei sein. Vermutlich wird es auch auf eine Teilung hinauslaufen: eine westliche AfD, die moderater und bürgerlicher auftritt und eine rechtspopulistische und in Teilen völkische AfD, die im Osten agiert.

Postmoderne Regierungsbildungen

Drei Fünf-Parteien-Parlamente sind am Sonntag entstanden. Regierungsbildungen sind nur noch unter postmodernen Gesichtspunkten machbar. Weder die klassische Vorstellung – Großpartei plus Kleinpartei = Mehrheit – noch die Addition der beiden großen Volksparteien als Große Koalition führen verlässlich zu Mehrheiten. Das ist neu im Parteienwettbewerb. Drei oder vier Parteien müssen sich zum Regieren gemeinsam verabreden. Minderheitsregierungen könnten sich entwickeln. Ob es in Mainz zur Ampel kommt, was wahrscheinlich ist, oder ob es in Stuttgart zum Modell Grün-Schwarz (einer neuen Großen Koalition der mandatsstärksten Fraktionen) oder gar zur Kenia-Koalition in Magdeburg (Scharz-rot-grün) führt, ist im Moment nicht klar. Aber die Farbenspiele haben begonnen, die Braut-Schau läuft und die Paar-Therapien sind angemeldet.

Der Wahltag

Der Sonntag war ein Demokratie-Fest. Die bundesdeutsche Gesellschaft ist seit letztem Sommer politisierter, auch polarisierter. Der Streit als Teil der Demokratie ist wieder öffentlich – trotz Großer Koalition in Berlin. Diese geht extrem geschwächt aus dem Wahlsonntag hervor, aber nicht kampflos. Denn nun ist deutlich, dass bürgerliche Wähler mehr Erklärungen zum Globalisierungsschub erwarten als bisher. Die Fanmeilen für die globalisierte, moderne Nation können Union und SPD ausweiten, wenn sie sich gesprächsbereiter als bislang zeigen und wenn sie konkrete Angebote präsentieren, eine moderne Sicherheit für die bürgerliche Mitte zu garantieren. Die politisierte Gesellschaft sucht sich neue Ausdrucksformen und Formate. Für das etablierte System der parlamentarischen Demokratie gab es am Sonntag hohen Zulauf. Landtage können so neue Empörungsorte werden.

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor der Politikwissenschaft an der Universität Duisberg-Essen und ein AGI Non-Resident Fellow.

The views expressed are those of the author(s) alone. They do not necessarily reflect the views of the American-German Institute.