Maß und Mitte: Mitte links

Niels Annen is an analyst at the International Policy Analysis Unit of the Friedrich-Ebert Foundation and a member of the SPD national executive board.

Schon bevor die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft den Bundesparteitag der SPD in Berlin eröffnete, konnte sich die Parteiführung über neu gewecktes Interesse freuen, über 9000 Interessierte und eine Rekordzahl von internationalen Gästen hatten sich für den dreitägigen Konvent in Berlin angemeldet. Inmitten der Eurokrise richtet sich der Blick damit nicht nur auf die regierende Koalition, sondern auch auf Deutschlands stärkste Oppositionspartei.

Entgegnen den Erwartungen nach der Niederlage bei der Bundestagswahl 2005, bei der die SPD mit 23% ein desaströses Ergebnis eingefahren hatte, war es der neuen Parteiführung um Parteichef Sigmar Gabriel und Generalsekretärin Andrea Nahles, nicht nur gelungen Flügelkämpfe zu vermeiden, sondern auch die Partei in überraschender Geschlossenheit, Stück für Stück, aus dem Umfragetief zu hieven. Die SPD konnte zudem seit dem Verlust der Regierungsbeteiligung auf Bundesebene mit einer Reihe von Wahlerfolgen auf der Länderebene ihren bundespolitischen Einfluss weiter ausbauen und der demoralisierten Mitgliedschaft neues Selbstbewusstsein geben. „Ihr habt der SPD ihren Stolz wiedergegeben” rief Gabriel an die neuen Länderchefs gerichtet aus.

Die eigentliche Leistung der letzten zwei Jahre bestand jedoch vor allem darin, nach der umstrittenen Politik des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder eine neue, tragfähige innerparteiliche Politik formuliert zu haben. Gabriels Kurs positioniert die SPD deutlich links von der seines Vorgängers Franz Müntefering, ohne dabei jedoch die Protagonisten der eigenen Regierungszeit zu desavouieren. Ebenso wie ihre europäischen Schwesterparteien steht auch die SPD vor der Frage, wie eine neue sozialdemokratische Politik nach dem gescheiterten Paradigma des „Dritten Weges” aussehen kann? Die Sozialdemokraten stehen dabei vor der paradoxen Situation, dass auf der einen Seite die Arbeitsmarktreformen von Gerhard Schröder die Grundlage für die gegenwärtige Stärke der deutschen Volkswirtschaft gelegt haben, auf der anderen Seite aber die vom neoliberalen Zeitgeist beeinflusste Politik der Deregulierungen und Steuersenkungen die sozialdemokratische Wählerschaft vergrätzt und die Beziehungen zu den Gewerkschaften nachhaltig gestört hat. Das für die Sozialdemokratie bittere Resultat dieser Politik war nicht nur eine beispiellose Niederlage und der Verlust der Regierungsbeteiligung, sondern auch die Etablierung der Partei „Die Linke” als nunmehr feste Größe im deutschen Parteienspektrum.

Spätestens seit der Finanzkrise hat sich die Diskurshoheit in der Bundesrepublik verschoben, Kritik am entfesselten Kapitalismus findet längst nicht mehr nur in marginalisierten linken Debattierclubs statt, sondern wird inzwischen bis tief in das bürgerliche Lager hinein rezipiert. Zum eindrücklichsten Symbol für den Niedergang neoliberaler Politik ist die FDP geworden, die hinter ihren Ruf nach Steuerentlastungen nur noch mit Mühe etwa drei Prozent der deutschen Wählerschaft zu versammeln vermag. Während viele Sozialdemokraten nach Ausbruch der ersten Bankenkrise 2008 noch voller Zuversicht waren, dass das offensichtliche Scheitern des Finanzmarktkapitalismus zu einer sozialdemokratischen „Zeitenwende” (Frank-Walter Steinmeier) führen würde, ist die Stimmung im Jahr 2011 deutlich nüchterner, die von Angela Merkel forcierte Austeritätspolitik hat vielen sozialdemokratischen Regierungen in Europa den Boden unter den Füssen weggezogen und trotz verbesserter Umfragewerte ist ein Regierungswechsel bei den nächsten Wahlen keineswegs eine ausgemachte Sache.

Vor dem Hintergrund dieser veränderten politischen Großwetterlage entschied sich die SPD auf ihrem Parteitag dafür, den maßvollen Richtungswechsel fortzusetzen. Insbesondere bei der Steuerpolitik nahm die Partei Abschied von der bisherigen Linie und sprach sich für eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 49% aus – und damit für eine Korrektur ihrer bisherigen Politik die zur Senkung Spitzensteuersatz auf 42% geführt hatte (die Intervention von Ex-Kanzler Gerhard Schröder in einer großen Sonntagszeitung war den Delegierten nicht einmal mehr einen Kommentar wert). In der Gesundheitspolitik sprach sich die Partei für eine Ausweitung der solidarischen Finanzierung zulasten der privaten Assekuranzen, hin zu einer „Bürgerversicherung” aus. Innerparteiliche Kontroversen, etwa um die Absenkung des Rentenniveaus oder einer zusätzlichen Reichensteuer konnten durch Kompromisse zwischen den Parteiflügeln beigelegt werden, so dass das bisherige Bild der Geschlossenheit durch den Parteitag nicht gefährdet wurde.

Die insbesondere von den Medien im Vorfeld hochgeschriebene Vorentscheidung zwischen den drei potentiellen Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück und Sigmar Gabriel fand auf diesem Parteitag nicht statt. Allerdings wurde durch sorgsam verteilten Beifallsbekundungen und eine kluge Parteitagsregie klar, dass die Delegierten die Präferenz der Öffentlichkeit für Peer Steinbrück nicht so ohne weiteres zu teilen scheinen, der Applaus für den ehemaligen Finanzminister viel weit geringer aus, als für seine direkten Konkurrenten. Parteichef Sigmar Gabriel geht somit deutlich gestärkt aus dem Parteitag hervor und wird trotz schwächerer Umfragewerte mehr denn je zum Kreis der potentiellen Kandidaten gezählt werden müssen.

Für die vielen internationalen Gäste, unter ihnen der norwegische Ministerpräsident Stoltenberg, der serbische Präsident Tadic und der Präsidentschaftskandidat der französischen Sozialisten Hollande, stand dagegen die Debatte um die Europapolitik eindeutig im Mittelpunkt des Interesses. Eingeleitet von einer einstündigen Rede des inzwischen 92 jährigen Altkanzlers Helmut Schmidt, widerstand die Sozialdemokratie allen populistischen Versuchungen, die europäische Krise parteipolitisch auszuschlachten und bekannte sich eindeutig zum Projekt der europäischen Integration. Kritik an der von Frau Merkel verordneten Austeritätspolitik dominierte die Debatte, eine sozialdemokratische Politik werde mehr Rücksicht auf die kleineren Staaten nehmen und die Wachstumskräfte stärken. Auch eine gemeinsame Haftung, etwas über Eurobonds, schloss der Parteitag nicht aus,- die Gäste des Parteitags werden es mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen haben.

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